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Blogeintrag

Schamland, Tafeln, alimentäre Teilhabe

Skandal Ernährungsarmut in Deutschland. Stefan Selkes neues Buch „Schamland“ über Tafeln und ihre Nutzung. Endlich debattiert die breite Öffentlichkeit darüber. Tafeln sind aber nur ein – vergleichsweise sichtbarer – Aspekt von Ernährungsarmut, es geht auch um Fragen alimentärer Teilhabe.

Dank Stefan Selkes eindrücklichen und nahe gehendem Buch Schamland wird der Skandal nun endlich medial breit diskutiert. Der Skandal, dass in unserer Gesellschaft – einer der reichsten der Welt – zunehmend Menschen ihre Ernährung nicht ausreichend sichern können. Selke betreibt seit vielen Jahren eine fundierte qualitative Forschung zu den Tafeln – diesem sichtbarsten Phänomen der Ernährungsarmut in Deutschland. Die Medien hätten das natürlich schon längst aufgreifen können – schade dass das erst passiert, wenn der Verlag breit Werbung macht.

In einem von Selkes Bänden habe ich zur Ernährungssituation von Hartz IV-Empfängern veröffentlicht (Pfeiffer 2010). Die in Deutschland durchgeführten Verzehrsstudie geben nur einen sehr einseitigen Blick frei auf Ernährung von armen Menschen in Deutschland: Von Armut besonders betroffene Gruppen der Bevölkerung sind in diesem Datensatz nämlich unterrepräsentiert. Mit empirischen Annäherungen aus unterschiedlichen Datenquellen konnte ich zeigen: Wer von ALG II lebt, ist nicht nur ungesunder als der Rest der Bevölkerung, viele haben auch schlicht zu wenig zu essen. Menschen in dieser Situation entwickeln ganz unterschiedliche Strategien, mit Ernährungsarmut umzugehen (Pfeiffer u.a. 2011).

Mindestens genauso schlimm ist das, was ich den Ausschluss von alimentärer Teilhabe nenne. Nach Arbeit ist Essen als sozialer Akt einer der wichtigsten Teilhabemechanismen in unserer Gesellschaft. Wer von Hartz IV lebt aber, kann einer der normalsten Aktivitäten in unserer Gesellschaft praktisch kaum mehr nachgehen: mit anderen zusammen Essen zu gehen: 12 Prozent aller Haushalte in Deutschland können sich Essengehen generell nicht leisten (European Quality of Life Survey 2003), Hartz IV-Beziehende verzichten zu 76 Prozent selbst auf einen einzigen monatlichen Restaurantbesuch (Bernhard 2008), und 6-8% sogar auf eine tägliche warme Mahlzeit (PASS 2006/2007).

Wer nicht Essen geht, lernt auch damit verbundenes soziales Kapital nicht, denn: Wo wir wie, mit wem und zu welchen Anlässen essen gehen, wie wir uns dabei kleiden und was wir dafür ausgeben; welches kulturelle Setting wir wählen; ob wir die adäquaten Tischsitten beherrschen und die angesagten Nahrungsmittel kennen – und ob wir darüber hinaus fähig sind, dem permanenten Wandel von Tisch- und Nahrungsmoden auch zu folgen: An all dem prüft, dokumentiert und ermöglicht sich unser Angekommensein und Dabeisein in einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft. Den Ausschluss von alimentärer Teilhabe können auch Tafeln natürlich nicht auffangen. Ernährungsarmut in Deutschland hat viele Aspekte – Tafeln sind nur der sichtbarste.

Die wichtigsten Zahlen dazu in meinem Habil-Vortrag (PDF).

Zum Weiterlesen:
Pfeiffer, Sabine (2010): Hunger in der Überflussgesellschaft. In: Selke, S. (Hg.): Kritik der Tafeln in Deutschland, Wiesbaden, S. 91-107.
Pfeiffer, S./Ritter, T./Hirseland, A. (2011): Hunger and nutritional poverty in Germany: quantitative and qualitative empirical insights. In: Critical Public Health, 21 (4), 417-428.

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