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Blogeintrag

Volkswirtschaftliches Potenzial von Industrie 4.0 – ein paar Fragen

Einschätzungen zum volkswirtschaftlichen Potenzial von Industrie 4.0 sind schwierig und es gibt wenige, die konkrete Aussagen wagen. Das zu versuchen ist gut. Werden dabei aber einige nahe liegende Differenzierung nicht getroffen oder nicht ausreichend nachvollziehbar offen gelegt werden, dann helfen solche Einschätzung weniger weiter. Es lohnt, nachzufragen.

Der Branchenverband BITKOM und das Fraunhofer IAO erwarten sich in einer gemeinsamen Studie erhebliche volkswirtschaftliche Effekte im Zuge von Industrie 4.0. Und zwar durch den Einsatz von Embedded Systems und Cyber Physical Systems, Smart Factory, Robuste Netze, Cloud Computing und IT-Security.

Das Forschungsinstitut der Deutschen Bank geht in einem Kurzbericht übrigens ebenfalls von einer enormen Wertschöpfung durch Industrie 4.0 aus, steuert dazu aber keine eigenen volkswirtschaftlichen Berechnungen bei, sondern fasst die Studie von BITKOM/Fhg IAO nur zusammen, an anderer Stelle beruft sich das Forschungsinstitut der Deutschen Bank stark auf den Abschlussbericht zu Industrie 4.0 der Promotorengruppe der Forschungsunion (online 2021 nicht mehr verfügbar).

Für eine volkswirtschaftliche Einschätzung der Potenziale von Industrie 4.0 ist daher die Studie von BITKOM und Fhg IAO aussagekräftiger als die Einschätzungen der DB Research, die sich letztlich auf Erstere beruft. Beide sind sich aber damit einig, das Potenzial sei enorm: Für die Branchen Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik, Automobilbau, für die chemische Industrie, die Landwirtschaft und natürlich die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) schätzt die Studie durch Industrie 4.0 in den nächsten 11 Jahren – also bis 2025 – ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 78 Milliarden Euro, das entspricht einem jährlichen Wachstum von 1,7 Prozent.

Die Studie kommt zu einer expertenbasierten Einschätzung des volkswirtschaftlichen Potenzials von Industrie 4.0 auf der Grundlage einer „groben Wertstromanalyse”, in deren Zentrum Produktivitätspotenziale durch einen flächendeckenden Einsatz von Industrie 4.0-Technologien stehen.

Erklärtes Ziel ist die Einschätzung zu Produktivitätssteigerungen betrieblicher Prozesse ]und zum Marktpotenzial durch innovative Produkte und Dienstleistungen. Zugegeben: eine Einschätzung dazu heute seriös zu machen ist schwierig, niemand kann auf einer soliden Basis prognostizieren, wohin die Entwicklung wirklich geht und wie weitreichend sie sein wird. Trotzdem stellen sich prinzipielle Fragen an die Ergebnisse der Studie – oder besser: es verwundert, warum naheliegende Differenzierungen in der expertenbasierten Einschätzung nicht konsequenter verfolgt wurden. Das fängt schon damit an, dass zentrale Begriffe der Studie – etwa Produktivität und Wachstumspotenziale – nicht klar definiert werden. Das befördert die Gefahr, dass der/die Leser/-in damit alles Mögliche verbindet: von eindeutigen (aber unterschiedlichen) Produktivitätsbegriffen wie sie in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vorkommen bis zu unklaren Alltagsverständnissen. Methodisch offen bleibt auch, wie sich die qualitativen Einschätzungen der befragten Experten in die dann präsentierten, scheinbar harten Zahlen „übersetzen”. Von diesen eher methodischen Fragen mal abgesehen, stellen sich (mindestens) vier weitere, inhaltliche Fragen an die Studie – und damit leider auch an die Tragweite ihrer Ergebnisse:

1. Geht es um Produktivitäts- und/oder Wertschöpfungssteigerung?

In der branchenbezogenen Ergebnisdarstellung wird zwischen beidem leider nicht differenziert. Dabei macht das vor allem bei den Branchen Maschinen- und Anlagenbau und IKT einen großen Unterschied. Schließlich können beide Branchen sowohl als Anbieter als auch als Anwender von Industrie 4.0 auftreten. Es ist ein substanzieller Unterschied, ob es um die Produktivitätssteigerung der eigenen Prozesse geht oder um eine Steigerung der Wertschöpfung durch innovative Produkte und Dienstleistungen, die an andere Branchen und in andere Regionen der Welt verkauft werden. Bei Abschätzungen zum ökonomischen Potenzial von Industrie 4.0 ist diese Differenz analytisch höchst sinnvoll – insbesondere bei Branchen, in denen beides eine Rolle spielen kann.

2. Sind Brancheneffekte addierfähig?

Nimmt man die Szenarien zu Industrie 4.0 als Gesamtszenario ernst, dann ergeben sich für viele Branchen Effekte. Dem trägt die Studie Rechnung, in dem sie viele Branchen einzeln betrachtet – vom Maschinen- und Anlagenbau bis zur Landwirtschaft. Dieser breite Blick ist hilfreich und ohne Frage angemessen. Ob aber die erwarteten Effekte in den einzeln betrachteten Branchen am Ende zu einer positiven Gesamtrechnung einfach addiert werden können, das erschließt sich aus der Perspektive von Industrie 4.0 nicht überzeugend. So mögen sich zwar für die Elektronik oder die Automobilbranche als Anwender von Industrie 4.0-Technologien erhebliche Produktivitätszuwächse erschließen lassen, diese sind aber nicht losgelöst von erheblichen Investitionen. Diese gehen eventuell bei der Erneuerung bestimmter Produktionsanlagen nicht über das bisherige hinaus und erreichen möglicherweise sogar früher als bisher ihren ROI (return on investment). Etwa wenn man von modularer und flexibler einsetzbaren kleineren Robotereinheiten ausgeht als den bisher bekannten. Gleichzeitig ist nicht abwegig anzunehmen, dass für die Handlingsautomatisierung tendenziell höhere Investitionen nötig werden als bisher – das zumindest wäre eine plausibel anzunehmende Folge der noch flexibleren Fertigungsabläufen, die Industrie 4.0 verspricht. Vor allem aber – und da sind sich alle Szenarien und Prognosen zu Industrie 4.0 einig – steigen die Anforderungen an die IT-Security und die Vernetzungsinfrastruktur erheblich. Beides wird insbesondere für die reinen Anwenderbranchen deutlich steigende Ausgaben bedeuten. Was also für die IKT-Branche einen Zuwachs an Wertschöpfung bedeuten dürfte, müsste gleichzeitig mit deutlichen Mehrausgaben in den Anwenderbranchen einher gehen. Das hätte in den Anwenderbranchen einen deutlichen Effekt auf die dort erwarteten Produktivitätszuwächse. Die Studie lässt erstens offen bzw. macht nicht nachvollziehbar, ob und in welcher Höhe solche möglichen Mehrinvestitionen berücksichtigt wurden. Sind diese nicht berücksichtigt, dann verbietet sich sachlogisch eigentlich zwingend, die in der Studie vorgenommene reine Addition der einzelnen Branchenzuwächse.

3. Sind die wichtigen Branchen berücksichtigt?

Die Studie versucht einen – der Thematik angemessenen – übergreifenden Blick über eine Vielzahl von Branchen. Das ist gut, denn: wenn sich Industrie 4.0 als Gesamtszenario so durchsetzen würde, wie es aktuell diskutiert wird, dann ist ein solcher branchenübergreifender Blick sinnvoll und notwendig. Aus volkswirtschaftlichen wie aus technologischen Gründen ist daher völlig richtig, nicht nur die Branchen IKT und Maschinenbau- und Anlagenbau als zentrale anbietende Akteure von Industrie 4.0 in den Blick zu nehmen, sondern auch Anwenderbranchen wie Automobil, Chemie und Elektronik. Dass die Studie zudem den Blick auf die Landwirtschaft ausweitet, ist sehr zu begrüßen: denn auch wenn Beschäftigungs- und Wertschöpfungsanteile die Branche oft als unbedeutend erscheinen lassen, ist kaum eine andere Branche so globalisiert, industrielaisiert und produktiv wie die Landwirtschaft. Was aber völlig erstaunt ist, dass die Logistikbranche in der Studie überhaupt nicht erwähnt wird. Diese hat durch die Informatisierungs- und Industrialisierungs- und Globalisierungsschübe der letzten Jahrzehnte schon erhebliche, grundlegende Strukturveränderungen erfahren: Ob wir von Just-in-time reden oder von Supply Chain Management, ob wir die globalen Wertschöpfungsketten ansehen oder die innerbetriebliche Logistik – all dies müsste durch Industrie 4.0 eine weitere und immense Veränderung erfahren. Nimmt man die Versprechen des Industrie 4.0-Diskurses im Hinblick auf die Zunahme an Flexibilität, Dezentralität und der Personalisierung von Produkten ernst, dann müssten sich gerade für diese Branche besonders starke ökonomische Effekte erwarten lassen. Obwohl Logistik als wichtiger Bereich vierzehn mal in der Studie erwähnt wird, kommt Logistik als Branche überhaupt nicht vor. Dabei ist unbestritten, dass die Logistikbranche – so schwer sie als Branche abzugrenzen ist – im Kontext von Industrie 4.0 eine erhebliche Rolle spielen wird. Und es ist ebenso unbestritten, dass die Logistikbranche eine volkswirtschaftlich bedeutende und wachsende Bedeutung hat. Wie also eine Einschätzung der volkswirtschaftlichen Effekte von Industrie 4.0 ohne die Berücksichtigung der Logistik als einer der zentralen Enablerbranchen gehen kann, das lässt die Studie leider und ohne jegliche Erklärung offen.

4. Ist Industrie 4.0 eine Insel?

Alle, die über Industrie 4.0 reden, sind sich einig: kommt diese neue Revolution oder Evolution (über die Zeiträume und den disruptiven Charakter der Entwicklung gehen die Meinungen durchaus auseinander) in der Produktion, dann sei – so auch die hier diskutierte Studie – Deutschland in einer besonders guten Ausgangslage. Für diese Aussage gibt es viele plausible Gründe, am häufigsten in der Debatte genannt: die Bedeutung und Innovativität des industriellen Kerns in Deutschland, die Export(weltmeister)fähigkeit des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus und das Niveau der deutschen beruflichen Bildung in der Hochschule wie im Dualen System der Berufsausbildung. Dass wir im Bereich IKT nicht in ähnlicher Weise eine Pole-Position einnehmen wird in den Industrie 4.0-Szenarien nicht ganz so nachdrücklich erwähnt. Und dass es angesichts alternder Belegschaften und der abnehmenden Begeisterung von jungen Menschen für MINT-Studiengänge und gewerblich-technische Berufsausbildungen zukünftig auch auf der Qualifikationsseite schwieriger werden könnte, den Vorsprung zu halten, ist zwar allenthalben bekannt, wird aber in den meisten Positionspapieren und Prognosen zu Industrie 4.0 selten ernsthaft als ein zu bearbeitendes Problem diskutiert. Aber muss man nicht gerade ein Thema wie Industrie 4.0 von Anfang an globaler sehen als dies momentan der Fall ist? Gerade wenn es um Einschätzungen zum volkswirtschaftlichen Potenzial gezogen werden sollen? Diese Perspektive fehlt in der Studie weitgehend und dieses Defizit hängt eng zusammen mit der unter 1. genannten unklaren analytischen Trennung zwischen Produktivitätszuwachs und Wertschöpfungspotenzialen durch Industrie 4.0. Auch wenn sich die Komplexität unserer globalen Wirtschaft nicht einfach einfangen und auf ein noch stark auf die Zukunft gerichtetes und weitgehend vages Szenario wie Industrie 4.0 beziehen lässt. Zwei sicher nicht zu vernachlässigenden Effekte wären zumindest diskussionswürdig, wenn es um die Abschätzung des ökonomischen Potenzials geht: Wenn etwa – was ja alle hoffen und was höchst nahe liegend ist – es dem deutschen Anlagen- und Maschinebau gelingt, Leitanbieter für Industrie 4.0 zu werden; wenn es gleichzeitig und gerade wegen dieser innovativen neuen Produkte und Dienstleistungen dieser Branche weiterhin gelingt, so exportstark zu bleiben wie bisher – dann heißt das doch auch folgendes: Die Produktivitätseffekte, die in der hier diskutierten Studie erwartet werden und die bspw. in der Anwenderindustrie Automobil erheblich durchschlagen sollen, ergeben sich nicht nur vor unserer Haustür, also in den deutschen Produktionsstandorten der Automobilindustrie, sondern mit ähnlicher Durchschlagskraft auch in anderen produktionsstarken Automobilstandorten der Welt – nicht in den global verteilten Standorten von VW oder Audi, sondern auch bei Toyota, Hyundai & Co. Alle werden produktiver, der Produktivitätseffekt durch Industrie 4.0 bleibt nicht exklusiv für die Anwenderbranchen vor der Haustür, sondern wird global durchschlagen. Umso mehr die Ausrüsterbranchen ihre Wertschöpfung im Export steigern können, umso weniger werden für die "heimischen" Anwenderbranchen damit substanzielle Wettbewerbsvorteile gegenüber globalen Konkurrenten einhergehen. Leitanbieter und Leitmarkt sind Konzepte, die man komplementär und global denken muss, wenn es um eine Einschätzung möglicher volkswirtschaftlicher Effekte geht.

Industrie 4.0 ist ein großes und in die Zukunft gerichtetes Szenario, das viel Altbekanntes enthält, aber auch mit vielen Unbekannten umgehen muss. Insofern ist jede Einschätzung, die wir heute wagen, immer immanent defizitär und steht zwangsläufig auf wackligen Beinen. Diese prinzipielle Unsicherheit kann man keiner Studie vorwerfen, erst recht nicht einer Studie, die sich wie die hier diskutierte, sichtlich um Konkretion bemüht. Dafür seien die Autoren auch explizit gewürdigt, denn sie gehen mit ihrer Studie weit über das hinaus, was ansonsten an vagen Szenarien durch die Debatten zu Industrie 4.0 geistert und sich um solche konkreten Einschätzungen nicht einmal bemüht. Die vier aufgeworfenen Fragen sollen daher auch die Studie selbst nicht in Frage stellen, sondern analytische Aufmerksamkeit wecken. Vielleicht wurde all dies auch berücksichtigt – dann wäre die (Er-)Klärung dazu in der Studie zum Verständnis hilfreich gewesen. Wurden die aufgeworfenen Fragen nicht berücksichtigt, so dienen sie – so hoffe ich – als Anregung für weitere Einschätzungsversuche.

Industrie 4.0 bietet viele Chancen, da scheinen sich alle einig. Wenn wir gesellschaftlich im Prozess der Entwicklung einen informierten Diskurs darüber führen wollen wohin die Reise geht, werden wir nicht umhin kommen, immer wieder kritisch zu hinterfragen und Konkretion und Differenzierung anzuregen, wo immer es geht. In diesem Sinne sollen die vier Fragen verstanden werden: als eine Anregung, in welche Richtung die Potenzialeinschätzungen der zitierten Studie weiter konkretisiert und differenziert werden könnten.

Prognostizierte Steigerung bis 2025
Eigene Darstellung der prognostizierten Steigerungen

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